„Die verlorene Welt“ « Z W »

2. Entdeckungen in der Perspektive des Romans

2.2. Auffassung und Aneignung

Die spezifische Wissenschaftskonzeption, die hier entwickelt wird, ist mit einer geistigen und materiellen Besitzergreifung verbunden. Dieses Verhältnis zur Welt wird in bemerkenswerter Art und Weise deutlich, wenn Professor Summerlee folgendermaßen vorgestellt wird:

Since landing from the boat he has obtained some consolation from the beauty and variety of the insect and bird life around him, for he is absolutely whole-hearted in his devotion to science.He spends his days flitting through the woods with his shot-gun and his butterfly-net, and his evenings in mounting the many specimens he has acquired. — LW 50

Die Welt zu entdecken heißt demnach also nicht nur, zu betrachten und zu analysieren, sondern auch, (zunächst noch lebende) Objekte aus der Natur zu entnehmen und sie nach einem feststehenden Schema zu ordnen.

Dies findet seine Fortsetzung in der Rolle von Landkarten und Aufstellungen, die nicht einfach nur als Mittel zur Dokumentation und Orientierung dienen (1), sondern bestimmte Bestandteile des Plateaus symbolisch einzelnen Entdeckern zuschreiben und so deren kulturelle ‘Unsterblichkeit’ (2) sichern.

In beiden Fällen steht der Erkenntnisprozess im Mittelpunkt, ist jedoch zugleich mit Aneignung und Umgestaltung verschränkt. Dies hat besondere Auswirkungen auf dokumentarische Darstellungen: Bei Dokumentationsverfahren muss eine Ganzheit der Außenwelt in solche Entitäten zerlegt werden, wie sie das Bezugssystem vorsieht. Im Falle einer Landkarte wird die wahrgenommene Landschaft verinnerlicht – gewissermaßen „eingenommen“ – und anschließend etwa in Wälder, Schluchten, Ödland und so weiter eingeteilt. Diese Problematik jedoch wird im Roman nicht aufgegriffen – sie erschließt sich erst aus der Distanz eines Kritikers.

Eine besitzergreifende Haltung zeigt sich auch im Verhalten der Entdecker gegenüber der Bevölkerung des Plateaus (3), dass schließlich nicht ohne Grund mit „Maple- White- [Weiß]- Land“ (LW 88, Hervorhebung durch Verfasser,Ü.d.A.) (4) benannt wurde. Die Darstellung der nicht-weißen (Affen-)Menschen ist von der Vorstellung verschiedener Menschenrassen mit bestimmten Merkmalen und einem jeweils festen Platz in der Gesellschaft geprägt. Personen außerhalb der eigenen Kultur der Entdecker werden grundsätzlich als geringwertiger oder zweitrangig dargestellt (5). Entsprechend dem verbreitenden Stereotyp sind sie mit beschränkten Fähigkeiten und Ausdrucksmitteln ausgestattet. (6)

Der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung spiegelt sich in der kriegerischen Auseinadersetzung zwischen Affen- und  Höhlenmenschen – beide Zuwanderer auf dem Plateau – wieder. Indem sie die Höhlenmenschen mit technisierten Waffen unterstützen, gewährleisten die Expeditionsteilnehmer schließlich deren Sieg über ihre weniger ‚entwickelten’ Vorfahren und stellen so den Menschen an seinen, ihm vermeintlich zustehenden, Platz:

It was as Challenger had said, and the reign of man was assured forever in Maple White Land. The males were exterminated, Ape Town was destroyed, the females and young were driven away to live in bondage, and the long rivalry of untold centuries had reached its bloody end. — LW 145

Diese Haltung ist von einer ebenso robusten wie engen Zivilisationsvorstellung geprägt – in diesem Fall verbunden mit der Hoffnung, es gebe den einen Weg, die Welt zu verbessern.

Aus dieser Sicht gibt es feste, überwiegend der kulturellen Identität der Entdecker entlehnte, Maßstäbe, um eine Lebensweise zu beurteilen, denen das neu betretene Land und dessen Bewohner zu unterwerfen seien.

In neuerer Zeit ist dieser Aspekt zurecht als rassistisch gebrandmarkt worden. Wenn Malone davon träumt, der Welt die Nachricht von der menschlichen Besiedelung des Plateaus zu bringen, so wäre sie dort wohl durchaus als Kunde von neuen Untertanen für das Königreich verstanden worden. (→ LW 116)

Dennoch gibt es zugleich Ausnahmen von diesem Schema: Der scheinbar begriffsstutzige, aber sanftmütige Zambo, „die eine vertrauenswürdige Verbindung zur Außenwelt“ (LW 84, A.d.Ü.) der Expedition, wird positiver behandelt. Von den echt menschlichen Bewohner des Plateaus wird ein im Grunde wohlwollend-zustimmendes Bild gezeichnet (→ LW 140) .

Zudem rücken Lord John Roxtons – freilich selbst fragwürdige – Menschenrechts-Kampage auf belgischem Territorium (→ LW 44) (7)und die ironische Darstellung der Physiologie (→ LW 133f.) die Angelegenheit in ein anderes Licht. Malones Überlegungen nach dem Triumph der Zivilisation auf dem Schlachtfeld verweisen auf negative Aspekte der Unternehmung:

It needed a robust faith in the end to justify such tragic means. As we advanced together through the woods we found the ape-men lying thick, transfixed with spears or arrows. Here and there a little group of shattered Indians marked where one of the anthropoids had turned to bay, and sold his life dearly. — LW 145

Dennoch können diese Einzelstellen die – in diesem Punkt mit schweren Problemen behaftete – Sichtweise letztlich nicht entlasten.

Der Unterwerfungsgedanke erfasst auch die Tier- und Pflanzenwelt als Teile der Natur, die, wie es scheint, nicht so sehr um ihrer selbst Willen geachtet als vielmehr gezähmt und ‚aufgebessert’ (8)wird. Als Malone in einer vom Menschen geschaffenen Dinosaurierfalle Zuflucht findet, werden seine Gedanken eindeutig von Überlegenheit bestimmt – was in der Behauptung gipfelt, der Mensch sei eben „stets Herr aller Dinge“ (LW 119, Ü.d.A.)geblieben.

Somit ist also die Zivilisation der entgültige Maßstab, das anzustrebende Ideal, dem das Unbekannte entgegengesetzt wird. Der Bezugspunkt ist stets die Heimatkultur.In diesem Sinne gewährt der Roman einer eigenartigen Mischung aus Idealismus, Selbstsucht und Habgier auf Seiten erfolgreicher Entdecker Raum (→ LW 103ff.) – wie sie etwa in dem Gegensatz zwischen den „Fleischtöpfen“ und den „Tintenfässern“ der Zivilisation (LW109), aufgestellt von den beiden Professoren, hübsch pointiert zum Ausdruck kommt .

Als Malone seinen Abschied von Maple White Land nimmt, nimmt er nicht nur ideelle Gewinne mit nach Hause, sondern auch ein Wohlstandsversprechen und – gleichsam als Gegengewicht – eine Art Bedauern für das Plateau, das, wie er erwartet, Opfer von „Goldsuchern und Jägern“ (LW 158, Ü.d.A.)werden wird.

Mit dem Erscheinen des „letzten Europäischen Pterodactylus [Flugfingers]“ (→LW 169, Ü.d.A.) findet die Expedition ihren logischen Abschluss: Das Geheimnis ist gelöst, materielle Gewinne sind in Reichweite gerückt und der ehemals ‚weiße Fleck’ steht jetzt ausgewählten Wissensträgern offen.


(1)
Landkarten treten häufig in Erscheinung (lw 89,102,110 u.a.). Aufstellungen dürften teil der „Archive”  der Expedition sein (lw 126).
(2)
Dieses bestreben wird im Roman wiederholt thematisiert (vergl. etwa lw 21f, 58), am pointiertesten jedoch in der (später widerrufenen Widmung Malones an seine ‘Freundin’ (vergl. lw 110 bzw. 169), bei der viktorianische Rollenbilder mit sanfter Ironie  aufgegriffen werden.
(3)
Der Roman sieht parallel zwei gegensätzliche Ideen vor: zum einen die „friedliche Durchdringung” (lw 89, A.d.Ü.) und den
„Einmarsch in ein neues Land” (lw 81).
(4)
Die Farbe Weiß trägt vielfältige Assoziationen. Sie könnte etwa auch auf den Glanz oder die Reinheit des unbekannten Landes Bezug nehmen. In jedem Falle steht dies dem rassischen Denken nicht entgegen.
(5)
Die nicht-weißen Expeditionsteilnehmer werden als gesonderte Gruppe beschrieben, Verallgemeinerungen werden bedenkenlos verwendet (besonders auffällig bei lw 52).
(6)
Ein englischsprachiges Halbblut ist eine Ausnahmeerscheinung (vergl. lw 52), Zambo kann sich nur mit Mühe ausdrücken (vergl. lw 84). Die Sprache der 'Eingeborenen' erscheint fremdartig und kaum komplex (vergl. lw 124,136). Die Affenmenschen sind allgemein grobschlächtig (ebd.), die Indianer hingegen pflegen eine äußerst traditionelle Kultur (vergl. lw 140f.).
(7)
Dabei ergeben sich Parallelen zum eigenen politischen Engagement des Autors, das gleichfalls nicht mit britischem Nationalstolz in Konflikt geriet. (vergl. D.Stashower, 2 2000, 319ff.)
(8)
Als Challenger verspricht, zu zeigen, “wie ein großer Geist die Natur zur Gänze in seinen Dienst stellt” (lw 142 A.d.Ü.), herrscht zugleich implizit Einverständnis darüber, dass dieser das Recht dazu habe.


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www.text-traeger.de · Autor: Paul - Christoph Trüper, 2005  - 2008.
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