„Die verlorene Welt“ « Z W »

3. Der Roman im geschichtlichen Kontext

Ein vertieftes Verständnis der Konzepte des Romans muss im geschichtlichen Kontext verwurzelt sein und dabei sowohl allgemein- als auch geistesgeschichtliche, kulturräumliche wie auch konkret persönliche Aspekte berücksichtigen.

3.1. Geistesgeschichtliche Aspekte

Der Roman stützt sich auf ein weit verbreitetes Wissenschaftsbild viktorianischer Zeit: Die Forschung strebt auf eine allgemeingültige Weltdeutung zu, wobei sie – als ein unmittelbarer Zugang zur Wirklichkeit – objektiv ist. Diese Wahrnehmung schien äußerst naheliegend einer Zeit, in der die (empirischen) Wissenschaften ihren Aufschwung nahmen und mit der Bandbreite an einsehbaren Themen den Wissenshorizont insgesamt erweiterten.

Indem sich die Industrielle Revolution und ihre geistige Grundlage gegenseitig befruchteten, gewann diese Entwicklung an Durchschlagkraft und Dynamik, sodass „die kleinen, gewöhnlichen Leute viktorianischer Zeit“ mit eigenen Augen  sehen konnten wie „die [Natur-] Wissenschaft die Welt um sie herum Tag für Tag neu gestaltete“ (J.Bronowski 1949, S.156, Ü.d.A.).

Die neue Herangehensweise an Fragestellungen, die sich da zu entfalten begann, strahlte immense Verlässlichkeit aus. Im Unterschied zu anderen Diskursbereichen ließen sich hier greifbare Beweise heranziehen. Außerdem erwiesen sich die dargebotenen Erklärungen in einer Vielzahl von Erfindungen und Neuerungen als wirkungsvoll (1) – und damit, dem Anschein nach, zugleich als wahr. Folglich kommt der Objektivität, dem „festen Griff, der das Tatsächliche hält“ (LW 77, Ü.d.A.), die das und nur das erfasst, was in der Außenwelt gegeben ist, innerhalb dieser Konzeption eine Schlüsselstellung zu. Sie erwies sich in der Folge auch für ihr Erklährungspotential als entscheidend.

Man darf davon ausgehen, dass A. Conan Doyle, nicht zuletzt aufgrund seiner medizinischen Ausbildung, mit den Diskursstrukturen seiner Zeit eng vertraut war und aktiv daran teilhatte.(2)

Im Guten wie im Schlechten erschien dieser Erneuerungsprozess als erheblicher Umbruch – und sogar in der geschichtlichen Rückschau wird man ihn in die Reihe der letztendlich prägenden Einflüsse einreihen können, die alle betroffenen Kulturen tiefgreifend veränderten. Die Neuerung war als fruchtbarer Teil viktorianischen Geisteslebens allgemein anerkannt (vergl. T.W.Heyck 1982, S.52) und entfaltete ihre provokative Sprengkraft nur dort, wo sie mit traditionellen Glaubens- und Sinnstiftungen kollidierte. In solchen Fällen wurde sie Gegenstand kontroverser Diskussionen, die dazu neigten, sie entweder zum Dämon oder aber zum Erlöser zu erklären. (vergl. J.Bronowski 1949, S.167f.) Dabei herrschte das Gefühl, die wissenschaftliche Erforschung der Natur werde schließlich die wahre Beschaffenheit der Welt – oder sogar den Plan hinter den fasslichen Erscheinungen – offen legen (vergl. T.W.Heyck 1982, S. 55).

Die Erwartungen, dass die Wissenschaft zu Fortschritt führen und die Lage der Dinge schlechthin verbessern würde, waren indes hoch. Der Gedanke, wissenschaftliches Denken sei – um einen Autor dieser Zeit zu zitieren – „nicht etwa ein vortreffliches Ergebnis des menschlichen Fortschritts, dessen Bedingung oder Begleiterscheinung, sondern der menschliche Fortschritt an sich“(3), prägte das soziale Umfeld, aus dem Die verlorene Welt hervorging. Die methodische, nach strengen Kriterien Zusammenhänge herstellende Behandlung einer Fragestellung,die zu dieser Zeit ursprünglich zum wissenschaftlichen Charakteristikum erhoben wurde, schien diese Zuversicht zu rechtfertigen.

Warum sollte sich die Realität dem Experimentator etwa nicht in einer intelligent geplanten Serie von Experimenten vermitteln? Warum sollte das so gewonnene Wissen nicht eingesetzt werden, um in den Lauf der Welt einzugreifen? Und warum schließlich sollten jene, die mit solcher Begabung und diesem Wissen ausgestattet sind, sie etwa nicht mit der selben Umsicht, die ihre akademische Arbeit ausgezeichnet hat, im praktischen Leben anwenden? — Erst aus historischer Distanz – und vor einem völlig anderen geistigen Hintergrund – zeigen sich solche Problempunkte als ein immanenter Teil dieser Konzeption.

Die fiktive Figur das Professor Challenger mit seinem Beharren darauf, was er mit eigenen Augen als wahr erkannt hat, passt genau in das geistige Klima der Zeit (4) – ebenso wie eine Expedition, die auszieht, um Belegmaterial zu sammeln und  letztendlich die Zivilisation in die Wildnis hinaus trägt.


(1)
Vergleiche ausführlicher: J.Bronowski (1949), 166 und T.W.Heyck (1982), 55ff., zum Aspekt der Nützlichkeit.
(2)
Er nahm rege an öffentlichen Debatten teil und führte Kampagnen an (vergl. D.Stashower, 2 2000, S. 113) ; sein außergewöhnliches Engagement im Spiritismus erscheint kurz im Roman, indem Summerlee sich weigert, an Telepathie zu glauben 
(LW 107).
(3)
W.K. Clifford (1845-1879), ein herausragender Wissenschaftstheoretiker, zit. nach: J.Borowski (1949), S.165 (Ü.d.A.).
(4)
D. Newman (1997, cf.15ff.) stellt Geschwindigkeit und Ausmaß des Prozesses für die Zeitgenossen und die damit verbundenen Erwartungen heraus.
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www.text-traeger.de · Autor: Paul - Christoph Trüper, 2005  - 2008.
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