4. Sherlock Holmes – Figur und Kult
4.1. Dimensionen des Kults – früher und heute
Eine Skizze des Sherlock Holmes- Kults – zur Zeit A.C. Doyles und
heute – mit Beispielen und kritischen Überlegungen.
Bis in unsere Zeit hat Sherlock Holmes nur wenig Einfluss in den
Herzen und Köpfen der Menschen verlohren. Auch heute noch ist er
ein „überall verbreitetes
und sofort erkennbares kulturelles Symbol”
(1), das das Prinzip rationalen Denkens überall
auf der Welt vertritt. Was ist das für eine geheimnisvolle
Ausstrahlung, die da von den Geschichten ausgeht?
Das außerorderntliche öffentliche Interesse an seinem Detektiven
traf den
Autor völlig überraschend. Obgleich ihn die Idee einer
wissenschaftlich orientierten Figur anfangs interessiert hatte,
entwickelte er eine zwieschneidige Beziehung zu Holmes, sobald sich die
Öffentlichkeit erst einmal in den Meisterdenker verliebt hatte. A.
Conan
Doyles Sicht auf diese Dinge ist in seinen eigenen Worten am besten
beschrieben:
„[Obwohl] ich doch sicherlich hart arbeitetete […] [waren es] noch immer die Sherlock Holmes- Geschichten, nach denen die Öffentlichkeit schrie. […]. [Schließlich] sah ich mich in der Gefahr, dass mir die Hände gebunden sein würden und ich selbst einzig und allein in Verbindung mit einem, wie ich finde, geringeren Niveau literarischer Leistung gesehen würde.” (2)
Damals wie heute hatten Sherlock Holmes’ zahllose Bewunderer die
Neigung, ihn als wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut zu behandeln,
aber anders als heute brachte dieser bemerkenswerte Effekt viele
Nachteile für den Schriftsteller, aber auch Dr. Bell: Beide
fanden des öfteren „Hilferufe”
in ihrer Tagespost – und
sahen sich damit selbst in der schwierigen Lage, mit einem
übernatürlichen Genie identifiziert zu werden.(3)
Da er den Eindruck gewann, das unerwartete öffentliche Interesse,
das ihn in eine eigenartige Lage versetzte, werde sowohl seine
Kreativität als auch seine literarische Karriere behindern, erscheint
sein Entschluss „dem Leben [s]eines Helden ein Ende zu setzen”
(4) vollkommen verständlich.
Der öffentliche Aufschrei nach diesem Versuch, Holmes ‚umzubringen’,
war gewaltig:(5) Der Autor
wurde wütend angegriffen, „Männer trugen schwarze Trauerbänder, die
britische Königliche Familie zeigte sich bestürzt, […] über
20.000 Leser kündigten ihr Abonnement des beliebten Strand
Magazine, in dem Holmes regelmäßig erschien”
(6), und über das – tragische aber fiktive – Ende
des Dedektivs „wurde in
einer Sprache geschrieben, die gewöhnlich Staatsbegräbnissen
vorbehalten blieb.”
(7)
Schließlich erweckte A. Conan Doyle Holmes neu zum Leben – er schaffte
es
nie, sich völlig von seinem epochemachenden geistigen Sohn zu befreien.
(8)
Dieser kurze Rückblick auf den ursprünglichen Sherlock Holmes- Kult
zeigt zwei seiner charakteristischen Elemente: Die Leser empfinden
nicht nur sehr eine starke Verbundenheit mit dem Dedektiv sondern
entscheiden sich auch, an ihn als wirkliche Person zu glauben, die
überhaupt unter ihnen gelebt haben könnte.
Die Zeit hat daran wenig geändert: Amazon.de (9) führt unter ‚Sherlock Holmes’
insgesamt mehr als 1.000 Artikel auf. (10)
Neben verschiedenen Texausgaben gibt es verschiedenste Bücher und
Essays über den Werkkanon, von denen einige sich gar nicht erst um
Distanz zur „Welt des Sherlock Holmes” bemühen.
Wer diesen Mikrokosmos außerhalb von Büchern erleben möchte, kann dies
nicht nur in einer Reihe von Multimedia-Produktionen, sondern auch
im ‚
„Das Interesse an Sherlock Holmes weltweit bleibt
unverändert stark”
erklärt die ‚Sherlock Holmes Society
of London’ (ca.
1930 / 1950) (12) „und
die Mitgliederschaft der Gesellschaft umfasst Menschen aller
sozialen Lagen und aus allen Teilen der Welt”
. Als Organisation
enthusiastischer Fans gibt sie ein halbjährliches Magazin heraus und
organisiert Treffen, aber auch außergewöhnliche Veranstaltungen wie
etwa ‚Pilgerfahrten’ an für die Erzählungen bedeutsame Orte.
All diese zufällig herausgegriffenen Facetten, ebenso wie unzählige
Fan-Internetseiten und Aufsätze, die über kleine Einzelheiten aus der
Biographie des Detektivs streiten, zeigen, dass es bis zum heutigen Tag
eine große Zahl faszinierter, treuer Anhänger gibt, die die (fiktiven)
Geschehnisse in der Baker Street 221b zu würdigen wissen.