2. Sherlock Holmes – Figur mit Methode
2.1. Charakteristika der ‚Methode der Deduktion’
Eine kritische Darstellung von Sherlock Holmes' idealisiert
‚wissenschaftlicher’ Arbeitsmethode: von Beobachtungen zu
richtigen Schlüssen. Mit Belegstellen aus A.C. Doyles
Erzählungen.
Sherlock Holmes – der bloße Name genügt meist, um das Bild eines
gütigen Genies vor dem inneren Auge heraufziehen zu lassen, dem
mithilfe seiner außerordentlichen Denkfähigkeiten zu entdecken gelingt,
was allen anderen verborgen blieb, und das in seinem Kampf für die
Wahrheit kaum einmal unterliegt.Obwohl dies nicht genau das Bild des Detektivs ist, das Conan Doyle im Original von ihm zeichnet, gehört die außergewöhnliche Methode der Deduktion, zu deren Symbol Holmes geworden ist, neben seinen einzigartigen Begabungen und Eigenschaften zweifelsohne zum Kern des Werkkanons. Worin also besteht diese Methode?
Holmes’ Arbeitsmethode beruht vollkommen auf der Grundlage von
Daten.
Seine primären Informationsquellen sind die Erzählungen seiner
Klienten, die er üblicherweise durch geeignete Fragen präzisiert ,und
das Wissen, das er aus seinen haarfeinen Beobachtungen bezieht. Indem
er scheinbar nebensächliche Details mithilfe seiner typischen
Fähigkeiten deutet, ist er in der Lage, bis zur Perfektion aus der
äußeren Erscheinung einer Person oder eines gewöhnlichen Gegenstandes
zu lesen, und so winzigste Faktenbruchstücke aufzuspüren, die
andernfalls unbemerkt geblieben wären.
In diesem Zusammenhang hebt Sherlock Holmes immer wieder hervor, dass ‚beobachten’
weit mehr bedeutet, als den Beobachtungsgegenstand nur anzusehen, oder
sogar die richtigen Bestandteile daran in den Blick zu nehmen. Jedes
Detail muss sich auch wirklich beim Beobachter im Geiste
niederschlagen, damit es genutzt werden kann:
“[…] The distinction is clear. For example, you
have
frequently
seen the steps which lead up from the hall to this room.” –
“Frequently.” […] –
“Then how many are there?” –
“How many? I don’t know.”
“Quite so! You have not observed. And yet you have seen. That is just
my point. Now, I know that there are seventeen steps, because I have
both seen and observed.” (aus: “A
Scandal in Bohemia”)
Sind sie einmal gesammelt, werden diese Informationen in der Folge
genutzt, um daraus die Kette der Ereignisse abzuleiten, die zur
aktuellen Krise geführt haben: Aufgrund der Annahme, dass alles, was
passiert – wie verquer und verstörend es für sich genommen auch
erscheinen mag – die logische Folge früherer Geschehnisse ist, die
ihrerseits sichtbare Spuren hinterlassen haben, analysiert der Detektiv
die gegenwärtige Lage der Dinge sorgfältig und leitet daraus deren
Vorgeschichte ab, womit er den Fall des Klienten nach dem Prinzip von
Ursache und Wirkung erklärt.
Holmes – oder vielmehr: A. Conan Doyle – bemerkt zurecht, das
diese Logik gewissermaßen das Gegenstück zu der ist, die wir im Alltag
anwenden: Während wir im täglichen Leben unseren Verstand
einsetzen, um die Zukunft aus gegenwärtig verfügbaren Fakten
vorherzubestimmen, betreibt Sherlock Holmes „Rückwärts-Denken/
Argumentieren”
(“backward reasoning”)
um
Vergangenes zu ergründen.
Meiner Ansicht nach ist dies einer der Gründe, weshalb seine
Methode einen recht überzeugenden und realistischen Eindruck
macht – wobei natürlich weiterhin fraglich bleibt, ob sie auch in
unserer nicht-fiktiven Welt von Nutzen sein könnte.
Da die Gabe des „analytischen Denkens”
(“analytical
reasoning”)
sehr selten ist (1),
auch wenn sie durch beständige Übung durchaus erworben werden kann,
macht sie den Detektiv seinen Gegnern größtenteils überlegen, und
versetzt ihn in die Lage, geheimnisvolle Situationen klar zu erfassen,
die anderen Leuten völlig unerklärlich sind(2).
Das schiere Ausmaß des Wissens, das er so mit großer Leichtigkeit
erlangt „überrumpelt”
(”baffles”)
nicht
nur Klienten,
Kollegen oder Kriminelle sondern – allen voran – den Leser:
“ […] How do I know that you have been getting
yourself
very wet
lately, and that you have a most clumsy and careless servant girl?” –
“My dear Holmes,” said I, "this is too much. […] It is true that I had
a country walk on Thursday and came home in a dreadful mess […]. As to
Mary Jane, she is incorrigible, […] but there, again, I fail to see how
you work it out.”
He chuckled to himself […]: “It is simplicity itself,” said he; “my
eyes tell me that on the inside of your left shoe, just where the
firelight strikes it, the leather is scored by six almost parallel
cuts. Obviously they have been caused by someone who has very
carelessly scraped round the edges of the sole in order to remove
crusted mud from it. Hence, you see, my double deduction that you had
been out in vile weather, and that you had a particularly malignant
boot-slitting specimen of the London slavey.”
(aus: “A
Scandal in Bohemia”)
Dieser Auszug aus der ersten Sherlock Holmes- Kurzgeschichte
veranschaulicht genau die außergewöhnlichen Fähigkeiten, die die
meisten Menschen unbewusst mit dem Detektiv verbinden(3).
Da sie sich ausschließlich auf die ‚objektive Realität’ gründet,
führt die Methode der
Deduktion – beinahe zwangsläufig – zur Wahrheit, denn: „Hat
man
erst
einmal das Unmögliche ausgeschlossen, so muss, was bleibt – wie
unwahrscheinlich es auch erscheinen mag – die Wahrheit sein.”
(4).
Um dieses hohe Ziel zu erreichen, ist es für den Ermittelnden
unerlässlich, völlig einwandfrei zu arbeiten, was in Holmes’ Fall
im Wesentlichen zweierlei bedeutet: Zunächst vermeidet er es
grundsätzlich, sich im Vorhinein eine Meinung zu bilden, was notwendig
ist, da man sonst „unvernünftiger Weise beginnt, an den Fakten
herumzudrehen, damit sie in die Theorien passen, anstatt die Theorien
so zu drehen, dass sie zu den Fakten passen”
(5). Außerdem prüft er einzelne Tatsachen und jede
Lösung, zu der er gelangt ist, nach. Auf diese Verbindung seiner
Theorien zur Außenwelt legt der Detektiv sogar großes Gewicht.
In der Tat wird Holmes sogar oft weit stärker selbst aktiv, als es die
Detektivarbeit an einem Verbrechen an sich erfordern würde: Ist er
einmal zu einer stichhaltigen Schlussfolgerung gelangt, entscheidet er
mit Ratio und Gewissen, was
zu tun ist. In der Regel zögert er dabei nicht, einem Klienten
persönlich beizustehen oder – wo nötig – einem Verbrecher mit Gewalt
entgegenzutreten.
So vereint er beides – theorethische und praktische Fähigkeiten – auf
hohem Niveau in sich: Sie beide bestimmen auch seine Persönlichkeit.