Sherlock Holmes - Background to a Phenomenon (Header)
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3. Sherlock Holmes – Wurzeln in Wirklichkeit

3.2. Geschlechterrollen

Eine kritische Deutung der Geschlechterbeziehungen und -rollen in A.C.Doyles Sherlock Holmes- Erzählungen im historischen Kontext. Mit Quellen- und Textbelegen aus den Originalerzählungen.

Eine genauere Betrachtung der Geschlechterrollen- Klischees lohnt meiner Meinung nach schon deswegen, weil sich in ihnen die Art und Weise, wie die Menschen gewöhnlich gewönlich miteinander umgegangen sind, ebenso wiederspiegelt, wie die allgemeine Atmosphäre einer Gesellschaft, die sich von unserer eigenen so wesentlich unterschied.

 Es war ein hartes Los für ein intellegentes, aufgewecktes Mädchen, in den Viktorianismus hinein geboren zu werden, als Frauen noch kaum auf ein aktives Leben hoffen konnten (1), da ihr Kampf um Gleichberechtigung erst noch zu gewinnen war: „Die aufstrebenden Mittelschichten– in denen die meisten Sherlock-Holmes- Erzählungen angesiedelt sind –

„hatten einen Preis auf das Untätigsein ihrer Frauen ausgesetzt […] Neben dem Gebären von Kindern,bestand die gesellschaftliche Funktion der bürgerlichen Frau darin, der lebende Beweis für den gesellschaftlichen Status ihres Mannes zu sein. [Dementsprechend] gehörten weder besonderer Eifer noch Intelligenz [zu ihren Tugenden].” (2)

In gewisser Weise war dies für beide Seiten eine unangenehme Situation, da es „den natürlichen, ungezungenen gesellschaftlichen Austausch zwischen den Geschlechtern nahezu unmöglich machte” – was allerdings nicht heißen soll, dass alle Frauen ihre untergeordnete Rolle zurückgewiesen hätten.(3) Mit den Jahren verbesserte sich die Situation der Frauen – hauptsächlich unter dem Einfluss der Industriellen Revolution – jedoch allmählich, bis sich „[Eine neue Art von Frauen], der qualifizierte Arbeit Selbstbewusstsein und Stärke verliehen hatte” nicht mehr ignorieren ließ, sodass schließlich auch die weibliche Hälfte der Bevölkerung von den einschneiden Veränderungen dieser Zeit profitierte. (4)
Das typische Bild von Frauen als zarte Geschöpfe, das heute ein konservatives Klischee geworden ist, beherrscht auch den Werkkanon, wenn es auch stets mit Conan Doyle's eigener Überzeugung einhergeht, dass Frauen in vielerlei Hinsicht selbst als eigenständige Individuen zu betrachten sind.

Die Erzählung „A Case of Identity” (6) ist ein Glanzbeispiel dafür: Ihre weibliche Hauptfigur, Fräulein Mary Sutherland, vertritt typische Ansichten bezüglich ihrer Position als Frau und ihre Geschichte erzählt von Unterdrückung ebenso wie von kleinen Siegen im Kampf für Gleichberechtigung. 
Aus der Erzählung geht klar hervor,dass es einer Frau im allgemeinen nicht erlaubt war, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen – ihr Gatte oder auch ein anderer Mann hatte das Recht, dies für sie zu tun.  (7) – und Mary akzeptiert diese Situation, wie sie es  ja auch vermeidet, ihren Vater offen zu kritisieren. Obwohl sie arbeitet und eigenes Geld verdient, ist ihr Vater – wie der Leser am Ende erfährt – in einer ausgezeichneten Lage, um seine Tochter für eigene Zwecke auszunutzen.  Sie opfert sogar ihre eigenen Träume zugunsten ihrer Eltern. (8)
Diese wichtige Rolle der Familie ist typisch für die Zeit – ebenso wie die Aussage des Vaters, dass „eine Frau im Kreise ihrer Familie glücklich sein sollte” oder der Gemeinplatz, es habe „keinen Zweck, einer Frau irgendetwas abzuschlagen, sie bekommt doch immer ihren Willen.” Mary hinterfragt beides nicht. Sie ist in gewisser Weise das typische gehorsame, bescheidene und unschuldige Mädchen des Viktorianismus. 

Und doch stützt sich die Erzählung ganz wesentlich auf eine Errungenschaft der Emanzipation: Die Machenschaften des Vaters gegen die Tochter wurden erst nötig aufgrund des Married Woman's Property Act  von 1882 [deutsch etwa: ‚Gesetz über den Besitz verheirateter Frauen’,1882], der Frauen das Recht gewährte, bei der Heirat ihren Besitz zu behalten.
Es gibt zwei weitere Sherlock-Holmes- Geschichten, die sich mit einem ähnlichen Problem beschäftigen: Die berühmte Erzählung  „A Speckled Band” und „The Adventure of the Copper Breaches.” In allen diesen Fällen nimmt es Holmes mit egoistischen Vätern auf, die die Heirat ihrer Töchter zu verhindern versuchen, weil sie deren Einkommen bedrohen würde.(9) Die Tatsache, das Holmes bereit ist, diesen Frauen beizustehen, (10) zeigt  Conan Doyle's Gerechtigkeitssinn und seine Achtung für das Geschlecht - wenn diese Erzählung auch mit einem frauenfeindlichen Stereotyp schließt.(11)

In Anbetracht des Ausgangs der Angelegenheit, wird der (moderne) Leser vermutlich bemerken, wie Viktorianische Sitten und Gebräuche ausgezeichnete Deckung für selbstsüchtiges Fehlverhalten bieten. Eine junge Frau unserer Zeit wäre –  glaube ich doch –  weitaus kritischer gegenüber ihrem Vater oder einem Geliebten wie Hosmer Angel; sie könnte sich leichter von ihrem Schwur befreien als Mary und würde deshalb weniger unter den Folgen der Machenschaften gegen sie leiden.
Für mich ist das ein recht schokierender Gedanke, da er eine der zahlreichen Schattenseiten derartig fester Moralvorstellungen wie denen des Viktorianismus freilegt.

Eine weitere Erzählung, die auf die dunkle Seite der Konvention hindeutet und dem Frauenbild des Werkkanons eine interessante Facette hinzufügt, ist „The Adventure of Charles Augustus Milverton” : Eifersucht als solche ist freilich nie erloschen, doch in einer tolleranteren Zeit wäre der „Der schrecklichste Mann in London(12) wohl weniger erfolgreich bei seinen Bestechungen. Die Erzählung ist besonders interessant, da nicht Holmes, sondern ein früheres Opfer den Verbrecher überwältigt: Gar nicht sanftmütig oder unbeholfen, tötet sie den Mann, der ihr Leben zerstört hat.
In der allerersten Kurzgeschichte um Sherlock Holmes versucht der Detektiv, gegen eine Frau zu arbeiten, die sich als noch robuster erweist, und ihn am Ende besiegt: Da Irene Adler (!) intelligent und unabhängig zugleich ist (13), könnte man durchaus sagen, sie stelle tatsächlich „ihr ganzes Geschlecht  in den Schatten und [dominire] es.” – zumindest in der Welt des Sherlock Holmes. Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Begabungen gewinnt sie sogar die Bewunderung des Detektivs und zwingt ihn, einige seiner Ansichten über Frauen zu überdenken. (14)
Aus textkritischer Sicht ist es bemerkenswert, dass der Werkkanon solche Ausnahmen zugesteht, obgleich diese herausragenden Frauen auf ihre eigene Weise ebenfalls Stereotypen erfüllen: zum einen den der rächenden Frau, die zu Gewalt greift, oder –  im Falle Irenes – den der verführerischen, klugen Frau, die Männer in gehobener Position in Schwierigkeiten bringt.

Was also kennzeichnet die Geschlechterbeziehungen im Werkkanon insgesamt?
Meiner Auffassung nach ist offensichtlich, dass die Erzählungen einer Zeit entstammen, als die Kluft (gap) zwischen den Geschlechtern noch weitaus tiefer war als heute und Männer überzeugt waren, in den meisten Lebensbereichen Vorrang beanspruchen zu dürfen. Einige interessante Erzählungen nutzen die bizarren Situationen, die aus dieser Ungleichheit entstanden. Da Holmes' Charakter von Verstand und Vernunft beherrscht wird, spielen „die zarteren Leidenschaften (15),etwa Liebe, eine untergeordnete Rolle – ja, für manche steht der Detektiv gar für die Unterdrückung sogenannter 'weiblicher Prinzipien' in westlichen Gesellschaften. (16)
Zweifellos handeln die meisten Frauen – im Werkkanon wie in Conan Doyle's eigener Lebenswirklichkeit – aus einer untergeordneten Position heraus. Die Texte stimmen  den traditionellen Rollenbildern ihrer Epoche tendenziell zu – und treten doch für eine von Fairness und Vertrauen getragene Atmosphäre im Umgang der Geschlecher ein.(17)
Auch wenn dies aus heutiger Sicht eine sehr zweifelhafte Position ist, gibt es mehr als genug Gründe für Frauenrechtsbewusste unserer Zeit mehr als genug Gründe, Sherlock Holmes trotzdem gern zu mögen; und einige Frauen mögen sich vom Charm einer 'Goldenen Vergangenheit', wie sie in den Geschichten erscheint, unverändert angesprochen fühlen – trotz der vielen Nachteile, die dieses Zeitalter ihren Vorfahrinnen zu bieten hatte.


(1)
 F. Nightingale, eine herausragende Frau dieser Zeit, und Reformerin des Wohlfahrtssystems, schrieb: "I could not satisfy this [vivacious] nature by spending a life with [the man I love] making society and arranging domestic things. Voluntarily to put it out of my power […] ever to seize the chance of forming for myself a true and rich life [by marriage!] would seem like suicide to me." – vergleiche: H.L. Beals: „The Victorian Family", S. 346 u.a.; in: H. Grisewood u.a. Ideas and Beliefs of the Victorians". [Text]
(2)
Aus: Viola Klein: „The Emancipation of Women Its Motives and Achievements", S.264, in: H. Grisewood u.a. .:Ideas and Beliefs of the Victorians". [Text]
(3)
Vergleiche: V. Klein (‘Emancipation of Women‘), S. 267 (Ü.d.A.).[Text]
 (4)
Aus:V. Klein (‘Emancipation of Women‘), S. 267 (u.a.) (Ü.d. A).  [Text]
(5)
Es ist ungerecht, ihn als Frauenrechts-Gegner abzutun. Anders als viele Männer seiner Zeit,machte er immerhin gewisse Anstalten, das harte Los [plight] von Frauen in einer repressiven [d.h. unterdrückenden] Gesellschaft zu verstehen […]." Vergleiche: D. Stashower ("Teller of Tales"), S.131 ff..(Ü.d.A.), mit weiteren Informationen. [Text]
(6)
In dieser Erzählung macht ein habgieriger Stiefvater seiner Stieftochter in fremder Maske den Hof, um zu verhindern, dass sie die Familie verlässt.[Text]
(7)
Marys Mutter führte das Geschäft ihres verstorbenen Mannes „mit Herrn Hardy, dem Vorarbeiter [weiter]; doch als [der Stiefvater] kam, hieß er sie, das Geschäft zu verkaufen […]"; die beiden Frauen fügen sich sogar seinem Wunsch dass sie „nie […] irgendwohin" gehen sollten. (Belege aus dem Text). (Ü.d.A.) [Text]
(8)
 Holmes: „Und da sie eine so große Summe einnehmen […] ,werden sie wohl etwas reisen und sich allerhand kleine Annehmlichkeiten gönnen? […]." "[Nein], Mr. Holmes, Sie verstehen,[sicherlich] dass, solange ich zuhause lebe, ich ihnen nicht zur Last fallen möchte. Und so überlasse ich ihnen das Geld, solange ich noch bei ihnen bleibe.  Das ist natürlich nur gerade für die Zeit ." (Ebd., Ü.d.A.).  [Text]
(9)
Vergleiche: Sandra Kromm (Feminist Appraisal), S. 281-282.  [Text]
(10)
Zwar mag seine Haltung bevormundend und paternalistisch sein, doch erfüllt Holmes auf jeden Fall die Rolle des fürsorglichen Vaters.–
Vergleiche: S. Kromm (Feminist Appraisal). S. 279-281. [Text]
(11)
Holmes: "Wenn ich es ihr sage, wird sie mir nicht glauben. Vielleicht erinnern Sie sich an das alte persische Sprichwort: 'Gefahr dreut dem, der dem Tieger sein Junges entreißt, doch auch dem, der da einer Frau eine Illusion raubt.' " (Ebd., Ü.d.A.) [Text]
(12)
Holmes in: „The Adventure of Charles Augustus Milverton” (Ü.d.A.). [Text]
(13)
Sie widersteht zahllosen Versuchen,ihr durch geschickte Maneuver beizukommen, führt ein vergleichsweise unabhängiges Leben und versteht sich darauf, in einer von Männern dominierten Welt ans Ziel zu gelangen . [Text]
(14)
Watson's Schlussworte: Er hatte die Angewohnheit, sich über die Klugheit der Frauen lustig zu machen, aber kürzlich habe ich soetwas kaum mehr von ihm gehört. Und wenn er von Irene Adler, […]spricht, dann immer unter dem Ehrentitel die Frau. (aus: "A Scandal In Bohemia", Ü.d.A.). [Text]
(15)
„Softer passions": Watson's Ausdruck in: A Scandal in Bohemia. Aufgrund der Grundanlage des Werkkanons und den Moralvorstellungen der Zeit erscheinen lebendige Beschreibungen enger Beziehungen aus Zuneigung - oder gar des Ehelebens - kaum in 'seinen'  Fallschilderungen. [Text]
(16)
Siehe: Sandra Kromm (‘Feminist Appraisal’), S. 267 sowie S. 275. S. Kromms Sichtweise ist jedoch höchst diskussionsbedürftig. [Text]
(17)
Fehlende Offenheit erweist sich in The Adventure of the Dancing Men als tödliches Verhängnis, The Yellow Face hingegen zeigt einen Weg zu positiven Lösungen in schwierigen Problemlagen im Rahmen einer Ehe. [Text]
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www.text-traeger.de · Autor: Paul - Christoph Trüper (Deutsch: 2009).
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